Lucy Walker © Alpine Journal Nr. 31
Am 22. Juli 1871 erreicht ein Telegramm aus Zermatt die Zeitungsredaktion des Journal de Genève. Die Britin Lucy Walker (1836-1916) hat es geschafft: Sie ist als erste Frau auf den Gipfel des Matterhorns gestiegen – in langem Flanellrock, wie es sich für eine viktorianische Dame gehört. Damit ist ihr ein Glanzstück des Frauenalpinismus gelungen, nur sechs Jahre nachdem der Brite Edward Whymper als erster Mensch auf dem Berg gestanden hat. Die Nachricht verbreitet sich in Kürze in Europa und Übersee. Nur vier Tage später widmet die britische Zeitschrift Punch der Britin unter dem Titel «A Lady has Clomb to the Matterhorn’s Summit» gar ein Gedicht:
No glacier can baffle, no precipice balk her,
No peak rise above her, however sublime,
Give three times three cheers for intrepid Miss Walker,
I say, my boys, doesn’t she know how to climb!
Das Matterhorn: die schönste aller Trophäen
Wie bei den Männern auch, hatte das Matterhorn unter Bergsteigerinnen als schönste aller Trophäen gegolten. Lucy Walker hatte denn auch nicht als einzige davon geträumt. Vielmehr versuchten sich verschiedene Frauen am Berg, allen voran Meta Brevoort (1825-1876), eine US-Amerikanerin aus New York, die sich in England niedergelassen hatte. Wie Miss Walker auch, machte sie in der zweiten Hälfte der 1860er Jahre mit grossen Bergfahrten auf sich aufmerksam und unternahm bereits 1869 einen Versuch am Matterhorn. Während diesem erreichte sie von der italienischen Seite her eine Höhe von knapp 4000 Metern, doch das schlechte Wetter liess sie umkehren. Zwei Jahre später indes wollte Meta Brevoort es noch einmal wissen: Sie plant, nach Zermatt zu reisen und erneut einen Versuch zu starten. Doch Lucy Walker ist bereits vor Ort, erfährt vom Ansinnen der Amerikanerin und stellt schnell eine Truppe zusammen, um jenen Versuch am «Horu» zu starten, der sie zur bekanntesten Bergsteigerin ihrer Zeit machen sollte.
Noblesse oblige: Gratulationen trotz Rivalität
Meta Brevoort reist unmittelbar nach Lucys Erfolg ins Mattertal und hört die «shocking news» – die schönste Trophäe war ihr entgangen. Am selben Abend noch treffen sich Lucy und Meta in Zermatt. Was die Amerikanerin dabei empfindet, wissen wir nicht. In den Quellen steht einzig: «There were congratulations.» Auf Deutsch: «Es wurden Gratulationen ausgesprochen.» – Noblesse oblige. Es ist das einzige Mal, dass die zwei stärksten Alpinistinnen ihrer Zeit sich treffen. Dies, obwohl sie sehr ähnliche Leben führen: Beide stammen aus wohlhabenden Familien. Lucy Walker aus einer Handelsfamilie aus Liverpool, Meta Brevoort aus einer niederländischen Familie, die nach New York ausgewandert und dank Landbesitz im Stadtzentrum zu einem Vermögen gekommen ist. Und beide sind sie trotz der viktorianisch strengen Konventionen der damaligen Gesellschaft äusserst lebendig und humorvoll. Lucy war gemäss ihrem Nachruf bekannt für «ihre Herzlichkeit, ihren Humor und ihr aufgewecktes Wesen», während Meta auffiel durch eine «unglaubliche Vitalität und die große Gabe, alles mit Freude zu tun», so Chronistin Cicely Williams.
Metas Silbermedaille: die erste Damen-Traversierung des «Horus»
So lässt sich Meta durch Lucys Erfolg am Matterhorn auch nicht unterkriegen. Sie wartet gute Bedingungen am Berg ab, traversiert am 5. September als erste Frau das «Horu» von Zermatt ins italienische Breuil (Cervinia) und steht in den folgenden zwei Wochen ebenfalls als erste Frau auf dem 4506 Meter hohen Weisshorn und der 4357 Meter hohen Dent Blanche. Nur fünf Jahre später stirbt Meta Brevoort nach einer kurzen Herzentzündung im englischen Dorking – voller Tatendrang und alpinistischer Pläne, wobei sie selbst vom Everest träumte. Lucy Walker steigt noch bis 1879 auf Berge und kehrt auch danach nach Zermatt zurück, um mit Freunden und ihrem dann ebenfalls betagten Bergführer Melchior Anderegg zu wandern. Von 1913 bis 1915 gebührt ihr zudem die Ehre, als zweite Präsidentin an der Spitze des britischen Ladies’ Alpine Club zu stehen, bevor auch sie 1916 als 80-jährige Dame die Welt verlässt.
Informationen zum Buch
Das Buch «Erste am Seil – Pionierinnen in Fels und Eis» von Caroline Fink und Karin Steinbach ist im September 2013 erschienen. In 26 sorgfältig recherchierten und lebhaften Portraits sowie Hintergrundtexten dokumentiert dieses den Frauenalpinismus von den ersten Alpenpionierinnen im 19. Jahrhundert über Höhenbergsteigerinnen aus aller Welt bis hin zu den Spitzenkletterinnen von heute.
Caroline Fink, Karin Steinbach: Erste am Seil – Pionierinnen in Fels und Eis.Tyrolia Verlag, Innsbruck 2013. ISBN 978-3-7022-3252-8, 304 S., ca. 80 Abbildungen, Fr. 39.–.